2020_03_03 Schnittkurs

7. März

Obstbaum-Schnittkurs?  Oder Schwimmkurs?
Oder Einführung in den Reisanbau?

Der A4-Zettel mit dem Text
Wegen Überschwemmung ist der für heute geplante „Schnittkurs an Obstbäumen“
um 1 Woche auf Samstag, 14.03., 14:00 Uhr, verschoben.
war rein vorsorglich schon in die Schweizerwies mitgebracht worden.

Aber zum Glück wurde er nicht gebraucht: Gegenüber dem Vorabend war das Wasser auf dem Wilhelm’schen Grundstück in der Schweizerwies um etwa 15 cm gesunken. Trotzdem standen noch große Teile unter Wasser, aber wenigstens waren einige wenige der rd. 180 Obstbäume ohne Schwimmhilfen erreichbar.

Kein Wunder, dass gestichelt wurde: "Josef, seit wann baust Du Reis an?"
Nächste Frage: Wie wirkt sich die Diskussion um das Corona-Virus aus? Offensichtlich kaum, wie sich eine halbe Stunde später zeigen sollte. Immerhin sind 20 Teilnehmer gekommen, und das, obwohl die Saarbrücker Zeitung erst am Veranstaltungstag auf unseren Kurs hingewiesen hat. Kurzfristig sind doch noch viele Gebietsfremde gekommen, Vereinsmitglieder sind diesmal deutlich in der Minderheit. Sie dürften geahnt haben, wie die Bodenbeschaffenheit ist.
Unter den Besuchern entdecken wir einen Mann, der uns viele Jahre lang Samen, Dünger und sonstige Artikel für die Gartenarbeit verkauft hat. Nachdem sein früherer Arbeitgeber den Laden geschlossen hat, bedient er uns jetzt genauso kompetent ein paar Hundert Meter weiter in einem anderen, deutlich größeren Geschäft. Zusammen mit zwei jüngeren Kolleginnen und einem Kollegen ist er gekommen, um Praxiserfahrung zu sammeln. Hat uns wirklich gefreut!
Fast mit Glockenschlag 14:00 Uhr begrüßt der Vorsitzende Karl Heinz Ratzel die Besucher und gibt ein paar grundlegende Informationen zu Verein, Grundstück und  Referenten. Spontanen Beifall gibt es, als die Besucher erfahren, dass Josef Wilhelm eine Woche zuvor mit der höchsten Auszeichnung unseres Verbandes, der Goldene Rose, geehrt wurde. Dann soll der Vorsitzende (eigentlich) den Mund halten …
Zum Einstieg in die nächsten zwei Stunden will der Referent angeblich – Überraschung, Überraschung! – theoretische Grundlagen vermitteln. Wer Josef kennt, weiß, dass er Theorie hasst, Praxis ist ihm wichtiger. Deshalb hält er auch kein Papier in der Hand, sondern die abgeschnittene Spitze eines Obstbaumes.

An diesem etwa 1 Meter langen Stück erläutert und demonstriert er Grundprinzipien des Obstbaumschnitts:
-    Was nach innen und/oder unten wächst, muss raus. Gleiches gilt für Totholz.
-    Allein dadurch kommt schon mehr Sonnenlicht ins Innere des Baumes. Das Obst kann so besser wachsen und reifen. Gleichzeitig sorgt durchpfeifender Wind nach dem Regen für ein schnelleres Abtrocknen – das Wachstum schädlicher Pilze wird reduziert.
-    Wassertriebe sind nichts Negatives – sie bieten vielmehr die Chance zur Umgestaltung und Verjüngung des Baumes, sie werden im weiteren Verlauf zu „normalen“ Ästen und tragen Früchte.
-    An der Spitze eines Zweiges wächst die deutlich dickere Terminalknospe; aus ihr entsteht der Neutrieb. Dickere Knospen am Zweig entwickeln sich voraussichtlich zu Früchten, dünnere zu Blättern.

Die Zuhörer lernen aber auch, dass fast jeder Referent nach seinen eigenen Regeln arbeitet. Es gibt also nicht den einzig richtigen Schnitt.

Insofern ist Angst vor dem Schneiden unbegründet, die Natur verkraftet vieles. Falsch wäre nur, den Baum überhaupt nicht zu schneiden. Ein über Jahre hinweg unbearbeiteter Baum dient allenfalls noch als Holzlieferant.
Dann geht es an den ersten Baum, einen Apfel der Sorte Topas. Der ist gut 20 Jahre alt, sah sich aber erst nach dem Zeigen der „gelben Karte“ –  d. h. einem wirklich starken Rückschnitt – zu mehr Wachstum und mehr Früchten veranlasst. Ohne diese Reaktion wäre er mittlerweile auf  5-10 cm über dem Erdboden gestutzt worden.
Erfahrene Kursteilnehmer wissen, was jetzt kommt: staunende Blicke und Kommentare der „Neulinge“ ob der Menge und Dicke von Ästen, die der Akku-Schere zum Opfer fallen. An vielen Ästen finden sich schon gut ausgebildete Knospen. Mit jedem Schnitt gehen also verkappte Äpfel verloren. In diesem Stadium des Wachstums fällt dies ja noch relativ leicht. Ein paar Monate später aber, wenn die Äpfel schon ausgebildet sind, ...
Weitere fallen – im wahrsten Sinne des Wortes – weg, wenn im Juni ausgedünnt wird. Die Natur sorgt ja schon dafür, dass nur so viele Früchte am Baum bleiben, wie dieser meint, ernähren zu können. 
Der Apfelbauer aber stellt sich die Frage „Will ich viele kleine Äpfel haben oder weniger, dafür aber dickere und schmackhaftere?“. Entscheidet er sich für die letzt-genannte Variante, wird die Zahl der Früchte noch einmal reduziert. Bei Wilhelm bedeutet dies gelegentlich, dass die Zahl der auf dem Boden liegenden Äpfel höher ist als die der am Baum hängenden. Klar, wenn man 180 Bäume hat, kann man sich so eine Einstellung leisten. Aber mit nur einem oder zwei Bäumchen?




Nachdem der Topas deutlich gelichtet ist, geht es zu James Grieve. Dieses nicht gerade schöne Gewächs unterscheidet sich deutlich von den meisten anderen Bäumen: Es hat nur wenige Leit-Äste, ist, gelinde gesagt, „sehr übersichtlich“.

Wilhelm erklärt die Situation, indem er auf eine Wunde im unteren Teil des Stammes zeigt: Der Baum hat Krebs, schon direkt nach dem Pflanzen hat er sich gezeigt.

Das könnte auch der Grund dafür sein, dass er relativ viel Obst produziert. These: „Im Wissen, dass er nicht mehr lange existieren wird, versucht er, Nachkommen zu produzieren.“ 

Bei Nadelgehölzen kennt man ein ähnliches Phänomen: Sie produzieren in einer vergleichbaren Situation über-proportional viele Zapfen = Samen.


Zu schneiden gibt es am James Grieve nichts.

Weil der Weg in den hinteren Teil des Gartens durch Wasser versperrt ist, widmet sich Wilhelm einem weit vorne stehenden Birnbaum, der in den beiden letzten Kursen stark bearbeitet worden ist.

Entsprechend groß ist die Zahl der Wassertriebe, die mit jetzt schon mehr als 1 Meter Länge auf den älteren Ästen wachsen.

Hier dünnt er nur wenig aus. Zur Begründung verweist er auf seine anfänglichen Aussagen: Wassertriebe werden zu normalen Ästen und irgendwann auch  Früchte tragen. Mal sehen, wie sie sich entwickeln.

Erst beim Sommerschnitt wird Wilhelm entscheiden, welcher Ast bzw. Trieb bleibt und welcher fliegt.

Kein Wunder, dass wir gutes Wetter hatten!
Voller Flechten - trotzdem gesund!
Ein letzter Apfelbaum kommt dann noch an die Reihe. Hier werden die Krone reduziert und ein armdicker Ast weit oben abgeschnitten. Ohne diese Eingriffe hätte der Baum noch mehr Schlageseite bekommen, wäre bei Sturm vielleicht gekippt. So ist seine Standsicherheit deutlich erhöht.

Und auch heute wird gefachsimpelt:
-    Nicht alles, was als „Säulenbäume “ verkauft wird, ist auch solches. Insbesondere gibt es keine Williams-Christ-Birne mit dieser Wuchsform. Sie wird sich im Lauf der Zeit vielmehr zu einer normalen Form entwickeln.

-    Flechten (und Moos) an Baumrinden sind unschädlich. Sie entziehen dem Baum keine Nährstoffe.

Zum Schluss:
Der Wilhelm’sche Quittenschnaps schmeckt umso besser, je kühler und schlechter die Witterung ist. Und die zwei Stunden vorher waren saukalt!

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